Montag, 15. November 2010

Max Weingartner - Wahrnehmungen

Mein Vater war Amtsvormund und ein ausgesprochen gutmütiger Mann. Immer wenn ein armes Mündel nirgendwo unterzubringen war, so gab es Platz und Verköstigung bei uns zu Hause. Meistens waren das so Menschen die irgendwie eine Schraube locker hatten, unter einem seelischen Knacks litten oder ganz einfach ziemlich anders waren als andere.
Max Weingartner war so einer. Er war ein vornehmer Herr, studiert, ein Doktor, sechssprachig in Wort und Schrift, etwa fünfzig Jahre alt und massiv manisch depressiv. Seine Konzentrationslosigkeit war sein Handicap; er konnte nirgends länger beschäftigt werden. Und einer der nicht arbeitet, der konnte nirgends untergebracht werden. So war das damals. Also wohnte er lange Zeit bei uns, verrichtete, Platos zitierend, Gartenarbeit, oder spielte "to be or not to be" in unserer Stube. Seine Krankheit genau analysierend war er morgens unansprechbar. Jedoch ab fünf Uhr nachmittags blühte er auf, dann wurde Schach gespielt, Zauberkunststücke vorgeführt und Studentenlieder aus dem alten Cantus-Prügel der Zofingia zum besten gegeben. Dann war Weingartner nicht zu bremsen. Er hielt mir wissenschaftliche Vorträge, die ich als kleiner Junge noch nicht verstand, erzählte wo er schon überall Generaldirektor war, wie es bei den Chinesen zu und her ginge, und wieso sich Messerschlucker nicht verletzen. Ich war sein Publikum, staunte mit offenem Mund.
Und wahrscheinlich hat genau er dazu beigetragen, dass ich heute die etwas aus der Norm fallenden Menschen besser verstehe, akzeptieren kann.

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