Donnerstag, 4. November 2010

Der Barpianist - wahrgenommen im "al Fagiano" in Locarno

Wir sitzen neben dem Flügel und haben bereits bestellt. Andere haben auch bestellt und unterhalten sich fast andächtig im Flüsterton.
Das Ristorante ist auf Luxus getrimmt in Neo-Empire-Stil. Alles in schwarzem Lack goldrandverziert. Die Decke als Glashalbrund mit schwarzen Sprossen dazwischen. Allenthalben ist die Glasschnitz-Architektur präsent wie sie jetzt wieder Mode ist. Botta lässt grüssen...
Das Geflüster wird kurz unterbrochen weil der Barpianist gekommen ist. Weinroter Kittel, weisse Hosen, weisse Socken, weisse Moccasins, braungebrannte Glatze mit weissem Haar umrandet. Der Typ dürfte so um die sechzig sein und hat so etwas von einem ältlichen ungarischen Tennislehrer oder von einem pensionierten Humphry Bogart. Seinen rechten Mundwinkel lässt er leicht hängen. Mit Routine aber etwas allzu hastig öffnet er den Flügel, streift seinen Kittel nach hinten und setzt sich auf den Drehstuhl. Mit gespielt desinteressierter Miene sortiert er Notenblätter, die er, wie sich später herausstellt, gar nicht braucht oder gebrauchen kann. Während er leichtfingrig Notenläufe im Barstil anschlägt mustert er verstohlen sein heutiges Publikum. Wohl hat er bemerkt dass ich ihn und sein Ritual amüsiert beobachte. Denn, obwohl ich ihm genau gegenüber sitze, vermeidet er gefliessentlich in unsere Richtung zu blicken. Wahrscheinlich vermutet er in mir einen angefressenen Jazzer und Verachter seiner Musik.....
"La Paloma", sein erstes Stück lässt eine End-Fünfzigerin am hintersten Tisch aufleuchten. Salbungsvoll blickt sie den Pianisten an. Mit Gönnermiene blickt der zurück. "Stranger in the Night" folgt, was dem Pianisten einen Augenaufschlag einer goldbehängten  Deutschen vom Tisch Numero 15 beschert. Mit leicht verzogenem Mund und fast unmerklichem Kopfnicken Richtung 15 bedankt sich dieser.
Ich beobachte das Pedalspiel am Flügel und der Pianist vermeidet nach wie vor irritiert meinen Blick. Offensichtlich hält er mich auch für einen Pianisten, einer der ihn beobachtet.
Nun wechselt er den Takt. Eine Spur zu forsch spielt er nun einige Stücke der Beatles und des Duo's Simon and Garfunkel. Etwas nach vorne gebeugt, konzentriert "Ob-la-di-ob-la-da" auf den Flügel hämmernd, erheischt er unter den Augenbrauen durchlauernd Blickkontakt zu Tisch Numero 23. Da sitzt ein aufgedonnertes Girl in hautengen Lederhosen und mit Edelpunk-Bemalung im Gesicht. Ein aufdringlicher Basler - sein bestelltes Steak ist immer noch nicht serviert worden - hämmert mit seinem Messer den Takt zu "Lady Madonna". Das Girl 23 reagiert immer noch nicht. Nun wechselt der Pianist zu "When a Men loves a Women" von Percy Sledges....23 reagiert immer noch nicht.
Gottseidank wird jetzt das Schlagzeug des Baslers zum zerschneiden des endlich servierten Steaks gebraucht. Falsch, aber schön laut drönt jetzt Celentano's "Azzurro" aus dem Flügel - 23 in Lederhosen zahlt und geht. Der Pianist schlägt jetzt wieder Kleydermann'sche Töne an und wechselt dann noch sülziger zu "Love Story". Leicht bleckt er seine Unterlippe und blickt verstohlen von Tisch zu Tisch.
Jetzt hat er mit Sicherheit bemerkt dass ich ihn nicht nur beobachte, sondern auch skizziere, denn jetzt wird er frech und wechselt zu "Take five". Wenn Dave Brubeck in der Nähe wäre schlüge er ihm den Flügeldeckel auf die Finger! Nach "Take five" spielt er nun "Merci, merci, merci", dann "Take the A-Train". Dabei schaut er erstmals zu unserem Tisch und nickt zufrieden wie nach einem Fachgespräch unter Kollegen. Er fragt mich ob ich noch einen speziellen Wunsch hätte. "Ja, zahlen"...

1 Kommentar:

  1. Liest sich, als würd man grad dabei sitzen und deinen kritisch amüsierten Blick mitbekommen. Weshalb wohl krieg ich ein wenig Mitleid mit dem Pianisten? ;-)

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